Dritte Räume sind Zwischenräume
von Gwendolin Kremer
Die Motorenhalle des Dresdner Kultur Forums riesa efau betretend, wird man zuerst der offenen, dreischiffig angelegten Architektur der ehemaligen Werkhalle gewahr: vertikale und horizontale Eisenstützen und -traversen strukturieren den Innenraum. Mit einem Blick lassen sich die Werkgruppen der drei Künstlerinnen Judith Karcheter (*1974 in Rotenburg/Wümme), Evgenija Wassilew (*1978 in Hamburg) und Bignia Wehrli (*1979 in Uster, Schweiz) erfassen, die vom Eingangsbereich bis zur zentralen Mittelschiffwand die Ausstellungshalle bespielen. In der ersten Überschau erschliessen sich dem Betrachter die Arbeiten und der Blick aus der Ferne nimmt zunächst ein verbindendes kompositorisches Element auf: die Linie, die sich von der streng rhythmisierten Architektur des Raumes ableitend, in den Arbeiten als Konstante offenbart. Im rechten hinteren Seitenschiff bestimmen einzelne fragile Röhren auf schwarzen Schwenkarmen, die scheinbar ohne Halt in das Hauptschiff hineinragen, als Graphen den so komponierten Raum (Tempest Tunes). Diese räumliche Darstellung findet sich wieder in einer vertikal angelegten Zeichnung, die einen großen Teil der Hauptwand der Halle einnimmt und in einer rautenförmig angelegten Grundstruktur – Elemente der Stahlträger aufgreifend – ein Netz, einen Rahmen graphitfarbener und in dünnem Bleistift ausgeführter Konturen zu erkennen gibt (Wire Dancer). Diese auf der weißen Wand raumgreifende Lineatur findet ein Echo in einem gleißend hellen Konglomerat einzelner ineinander verwobener Lichtspuren auf nachtschwarzem Grund, die sich – von weitem betrachtet – auf großformatigen an der Wand befestigten Bildtafeln entfalten (Sternenschrift). Das disegno als ein verbindendes Moment spielt eine wichtige Rolle in den Arbeiten der Künstlerinnen. Wie oben für die Makroperspektive anhand der Werke Tempest Tunes (2013) von Evgenija Wassilew, Wire Dancer (2013/2014) von Judith Karcheter und Bignia Wehrlis fotografischer Arbeit Sternenschrift (2014) beschrieben, lässt sich die analytische Betrachtung auch auf der Mikroebene wiederholen. Als Graphen zeigen sich die Linien in Bignia Wehrlis Dokumentation der landwirtschaftlichen Wege ihres Vaters am Ort ihrer Kindheit in Sternenberg (2012/14), als lineare Aufzeichnungen in der Arbeit Seismós (2013), in der Evgenija Wassilew über 18 Stunden lang die Ausschläge ihres Herzens und die zeitgleichen Erschütterungen des am Körper befestigten Kardiographen festhielt, und bei Judith Karcheter als fragile Wandzeichnung, die sich als durchscheinender Zeilenverlauf auf der Rückseite der zehn Collagen in Wire Dancer (2014) subtil manifestiert und auf die Herkunft der Vorlagen als Buchseiten verweist. Die Schwarz-Weiß-Abbildungen aus dem Buch über Seiltänzerbiografien wurden collagehaft mit farbigen Dreiecken, Streifen oder planetenartigen Punkten ergänzt. Bestehende Kompositionen der Vorlage werden aufgegriffen, zugleich aber neue formale Gewichtungen gesetzt, um die Artisten hoch oben in der Schwerelosigkeit – entrückt vom Rest der Welt – in ihrem eigenen Kosmos weiter schweben zu lassen. Die schwindelerregende Höhe, die sich in der vertikalen Tendenz der Wandzeichnung andeutet, wird in Was like fallin' from heaven (2014), einer mittig im Raum platzierten Stoffarbeit, welche die gesamte Raumhöhe der Motorenhalle aufnimmt, fortgeführt, die zwischen Vorhang und Vertikaltuch der Artisten changierend, das Thema der Luftakrobaten weiterspinnt. Figurationen fiktiver und transformierter Welten finden sich auch in Judith Karcheters Installation Walzer für Milan (2013/14): Collagen, Fotografien, Objekte und ein Liedtext "berichten" in poetisch-assoziativem Gestus von einer Reise nach Budapest, die anhand von Erinnerungsfragmenten, dadaistisch anmutenden "Schnipseln", in einer über Eck komponierten Assemblage vorgestellt wird. Von Farben und Formen transponierte Empfindungen verdichten sich in der Installation zu einer Rückschau und der den Walzertakt aufnehmende (Lied)Text gibt nur dem, der sich auf das Zwischen-den-Zeilen-Lesen versteht, subtile Hinweise auf reale und fiktive Erlebnisse, die sich in den abstrakten Kompositionen der einzelnen Arbeiten und als angedeutetes Sujet in den Fotografien wiederfinden.
Ein wiederkehrender und verbindender Topos aller Arbeiten ist zudem das Ephemere – Himmel oder Licht, Wasser und Luft –, das transformiert, decodiert und letzlich wieder in den Installationen erlebbar gemacht wird, wenn die Künstlerinnen Strategien finden, in denen das Geheimnis der aufgeworfenen Rätsel nicht verpufft, sondern vielmehr – übersetzt mittels überraschender Lösungen – Bestand hat. Dabei gelingt ihnen der Kunstgriff, die Geschichte, die dem Werk eingeschrieben ist, für den Rezipienten lesbar zu machen und ihn zugleich für den Moment des Betrachtens in einen imaginierten Kosmos hineinzuziehen. Spannend wird dieses Unterfangen, da sich die Methoden, derer sich Karcheter, Wassilew und Wehrli bedienen, so unterschiedlich sind. Diese befassen sich mit ortsspezifischen Phänomenen, vergänglichen historischen Schichtungen und dem Körper als Gehäuse von Prozessen und Möglichkeiten. Evgenija Wassilew begreift die Stimme als Werkzeug, um physische und mentale Empfindungen des Fremdseins zu beschreiben. Der Körper als Resonanzraum, die Wahrnehmung von Klang und Musik spielen hier eine zentrale Rolle. In der Videoarbeit Aria (2011-13) sieht man die Künstlerin, in Seen tauchend und unter Wasser eine Arie aus Mozarts "Zauberflöte" singend, das Unmögliche herausfordern. Die Performances wurden mit einer Kamera und einem Hydrofon aufgezeichnet. Die Videoprojektion auf der bühnenartigen Holzwand verleitet dazu, in die Unterwasserwelt einzutauchen und sowohl dem sichtbar und hörbar gemachten Kampf mit der Atmung als auch dem gluckernden Gesang aus einer fremden Welt teilhaft zu werden. Ist man durch die Kopfhörer mit dem Gesang der Königin der Nacht in Aria ganz bei sich, fordern es die Tempest Tunes geradezu heraus, sich in das fragile Raumgeflecht zu wagen. Ihre Geräuschkulisse ist sphärisch fremd. Wassilew zeichnete die Töne in den Glasröhren bei einer rasanten Autobahnfahrt auf. Die durch die wucht des Gegenwindes erzeugten Tonfolgen und Geräusche werden auch im Innern der Röhren abgespielt. Akustisch erforscht die Künstlerin Grenzen von Körper und Raum.
Der Titel der Gruppenausstellung impliziert verschiedene Deutungsebenen. Scheint der in diesem Kontext naheliegende "topological turn" beziehungsweise "spatial turn" bereits auch Ansätze zur Interpretation der Arbeiten der drei Künstlerinnen einzuschließen, ist dies besonders in dem installativ und prozesshaft angelegten Werk von Bignia Wehrli evident. Ausgangspunkt ist das von ihr konzipierte Instrument Sternenstift (2013): Dieses erlaubt es, mit dem Licht eines Sternes zu zeichnen, indem eine zum Himmel gerichtete Fotokamera mit einem zur Erde zeigendem Stift verbunden ist. Der mit der Hand geführte Stift steuert den Apparat und bewegt so den Himmelskörper. Durch die Langzeitbelichtung bildet sich sein Licht als Bewegungsspur auf dem Negativ ab. Die in den fotografischen Pigmentdrucken Sternenschrift (2014) festgehaltenen Ergebnisse der Aufzeichnungen stellen sieben, im Arbeitsablauf eines Tages zurückgelegte Wegstrecken ihres Vaters im Sommer 2012 dar, die sich nun vor dem Nachthimmel als hellleuchtende Gebilde abheben. Die Übersetzung der mit GPS aufgezeichneten Wege in eine lyrische Abstraktionsebene im Bild zeigt, wie Fragen von Topgraphie und Wissenschaft in Darstellungsmodi überführt werden können. Ist das ahistorisch anmutende Instrument Sternenstift integraler Bestandteil der Präsentation, erkennt man in Zwei Bleistiftlängen Licht (2012) den Zusammenhang zwischen dem auf einem Stativ montierten Stift-Anspitzer und den in 71 Dias festgehaltenen kreisrunden Darstellungen, die an Mondaufnahmen erinnern, erst auf den zweiten Blick: kein kosmisches Ereignis wird hier in nuancierenden Hell-Dunkel-Werten dokumentiert. Bignia Wehrli zeigt vielmehr das Innenleben eines mit Fotopapier ausgekleideten Spitzers. Die surrealen Landschaften ergeben sich durch den Lichteinfall des beim Spitzen erzeugten Bleistiftabfalls, einem winzigen "Big Bang" (Bignia Wehrli) gleich. Versteht man "Third Space" nach seinem Begründer Homi K. Bhaba vor allem als Hybriditätskonzept, das eine transdisziplinäre Bedeutung für die Kulturwissenschaften erlangt hat, dann lässt sich auch für diese Ausstellung konstatieren, dass dritte Räume auch immer Zwischenräume sind, die ihr Potential darin entfalten, dass sie einflüsse und Anregungen – formale Analogien und einander nahe Sujets – zulassen und produktiv weiterentwickeln zu imaginierten Entwürfen von Welten, die uns vertraut und fremd zugleich sind.